Die Eschholzstrasse war damals, als ich noch ein kleines Kind war, noch viel lauter als heute: Vierspurig wältzte sich dort Tag und Nacht der Verkehr. Unsere Wohnung lag zwar im fünften Stockwerk oben, aber unser Leben war doch geprägt von einem nie abreißenden Lärmpegel.
Umso erstaunlicher war für mich meine erste bewusst erinnerliche Erfahrung von Stille. Ich mag damals 4 oder 5 Jahre alt gewesen sein. Bei einem Besuch bei meinen Großeltern im kleinen Dorf Prechtal bei Elzach erwachte ich eines Morgens durch das Krähen eines Hahnes - und dann wurde es wieder still, ganz und gar still. Ich weiß es noch wie heute, wie mich diese Stille zunächst tief erschreckte und dann tief beseligte. Meine Eltern und Großeltern schliefen noch. Ich aber war so wach wie noch nie in meinem Leben. Was war das, diese Stille? Ich fühlte mich plötzlich noch viel mehr genährt als vom besten Marzipan! Die Stille war schöner als das größte Geburtstagsgeschenk, ja noch schöner als Weihnachten! Ich spürte plötzlich ein tiefes Glücklichsein, einen tiefen Frieden - und die Ahnung einer Gewissheit, dass das, was ich gerade erlebte, nicht mehr vergehen würde...
Ich habe diesen ersten Moment bewusst erlebter Stille natürlich bald wieder vergessen. Mit 14 Jahren hatte ich dann ein Erlebnis, das ihn wieder sehr kraftvoll wachgerufen hat. Es war beim Hüttenaufenthalt meiner Jugendgruppe auf der Ettersbachhütte. Das Ettersbachtal ist ein Seitental des Glottertales. Wir zehn Jungs von der Waldkicher Jugendgruppe tobten uns damals da oben im abgelgenen Wald eine Woche lang so richtig aus. Wir machten Lagerfeuer, wilde Abenteuerspiele, Nachtwanderungen und lauter Dinge, die richtig Spaß machten. Gegen Ende der Woche geschah dann etwas Erstaunliches: Mein Gruppenleiter Martin, nur drei Jahre älter als wir, lud uns mit ernster, fast feierlicher Stimme zu einem Experiment ein. Er habe etwas entdeckt in seinem Leben, das wolle er uns gern zeigen. Wir waren offen und neugierig und ließen uns auf jede Verrücktheit ein. Martin war ein außergewöhnlicher Gruppenleiter. Da waren wir uns einig. Wir alle liebten ihn. So zögerten wir nicht, das zu tun, was er uns vorschlug, auch wenn es uns ganz und gar seltsam anmutete. Er lud nämlich ein, uns oben im Schlafraum im Kreis auf ein Kissen zu setzen, die Augen zu schließen und ganz still zu sein. Wir sollten, wenn möglich, für fünfzehn Minuten in diesem Schweigen bleiben - und, so gut wir könnten, den Atem beobachten. Falls wir uns nicht darauf konzentrieren könnten, wäre das nicht schlimm. Wir sollten nur immer, wenn wir merkten, dass wir in Gedanken bei anderen Dingen als beim Atmen wären, immer wieder neu unsere Aufmerksamkeit auf den Atem richten.
Plötzlich war sie wieder da, diese Stille, die ich aus jenen Kindertagen kannte. Und ich selbst war plötzlich wie vollständig da. Ganz und gar wach. Kristallklar. Aus diesem wie überqellenden Wachsein sprudelte ein unbeschreibliches Glücklichsein und ließ in meiner Seele so etwas wie einen weiten Raum entstehen. In dieser Weite hatte alles Platz. Licht und Schatten. Schönes und Schreckliches. Freude und Schmerz. Ich spürte einen Frieden in mir, den mein Verstand in keinster Weise begreifen konnte.
Von jenem Tag an begann ich, mich in der Regel täglich für eine Weile hinzusetzen. Und ich lauschte auf die Stille. Bis heute habe ich mir das zur Gewohnheit gemacht. Ich halte das für die vielleicht kostbarste Gewohnheit meines Lebens.
Als Arzt suchte ich für jeden Patienten immer die bestmöglichste Medizin zu finden. Im Grunde meines Herzens weiß ich, dass die beste Medizin gar nicht ein etwas ist, das als Tabletten oder Globuli eingenommen werden kann. Viele, ja mir scheint, die meisten meiner Patienten haben es auch schon entdeckt: Das, was wirklich heilt, kommt nicht von außen. Woher es kommt, das weiß die Stille...
Johannes Latzel