Schon immer hat mich das Bild vom Auge des Taifuns fasziniert. Während im Äußeren ein unheimlicher Sturm tobt, bleibt die Mitte, hier als Auge des Taifuns bezeichnet, vollkommen still, reglos und unbekümmert von der Gewalt des Wirbelsturms. Wie kann es sein, dass diese Mitte nicht davon erfasst wird? Das ist nur möglich, weil sie das Zentrum ist, aus dem heraus die Bewegung entsteht. So wie sich ein Rad nur drehen kann, weil es eine stillstehende Mitte hat.
Dieses Bild hat mir sehr geholfen, um die STILLE zu erahnen. Denn es ist nicht leicht, wenn ich vom Wirbelsturm des Lebens erfasst werde oder ich mich sogar selbst als Wirbelsturm empfinde, daran zu glauben, dass es in mir diesen stillen, ruhenden Ort auch geben könnte. Doch genau diese Botschaft beinhaltet dieses Bild. Jedes Leben, und somit auch mich und dich, gibt es nur, weil es eine stille und ruhende Mitte gibt. Sie ist unser Ursprung, Wesenskern und Lichtfunken mit dem wir alle auf die Welt kommen. Unser Leben bringt es jedoch oft mit sich, dass wir uns Stück für Stück von dieser Mitte entfernen und dabei vergessen, dass wir aus ihr kommen und sie in uns tragen.
Obwohl ich als Kind und Jugendliche immer wieder diesem Lichtfunken und diesen stillen Raum für kurze Momente gespürt habe, hatte ich doch keine Ahnung, dass es möglich ist, diesem Raum nicht nur „zufällig“ zu begegnen, sondern ihn aufzusuchen. Das fiel mir zu Beginn „als Wirbelsturm“ nicht leicht, da ich dachte, dass ich in mir nichts finden würde, außer beängstigende Leere, Einsamkeit und innere Unruhe. Es gab Phasen, da fühlte ich mich so unverbunden mit mir, den Menschen, der Welt, dass ich mich vor der Stille und dem Alleinsein fürchtete, denn ich wusste nicht, was ich darin Gutes finden sollte. Ständige Bewegung, Ablenkung, Kontrolle, tun und machen, waren mir vertrauter, als sein lassen und Nicht-Tun. Vielleicht war es sogar so, dass ich vor der Stille flüchtete, ihr nicht vertrauen konnte, da sie mir scheinbar so unbekannt war. Und wenn ich mich in unserer Kultur so umsehe, bin ich wohl nicht die Einzige, die dieses Phänomen kennt. Es scheint so, als käme unsere Gesellschaft nicht mehr zur Ruhe, obwohl sich alle danach sehnen, das Hamsterrad ihres Alltags anzuhalten und durchzuatmen.
Für mich war es die Natur, die mich zunächst die Stille lehrte. In ihr erlebte ich ein Aufgehoben sein, eine Verbundenheit und eine Ruhe vom Lärm der Welt. In ihr fühlte ich mich weniger einsam, als inmitten von Menschenmengen. Ich lernte, auf die Zeichen der Natur zu achten, welche Tiere mich besuchten, welchen Pflanzen ich begegnete und wurde dabei ruhiger. Es war das Innehalten und die äußere Ruhe, die mir Stück für Stück halfen in eine innere Ruhe zu kommen.
In der Natur zu sein fiel mir leichter als in der Meditation zu sitzen, denn das ist für einen „Wirbelwind“ wahrlich nicht leicht. Obwohl ich mich bereits in jungen Jahren zur Meditation hingezogen fühlte, dauerte es lange bis es mir möglich war, auch in der Meditation der Stille zu begegnen. Wenn ich mich zur Meditation setzte wurde es erst einmal laut in mir. So begriff ich, dass äußere Stille nicht unweigerlich die innere Stille mit sich bringt. Kreisende Gedanken können sehr laut sein. Schmerzhafte Gefühle, Groll, inneres Unbehagen können sehr laut sein. Und es wäre manches Mal leichter, vor diesem „inneren Lärm“ in die Ablenkung zu flüchten, als ihm standzuhalten. Doch bald wurde mir klar – gäbe es dieses „innere Unbehagen“ nicht in mir, würde es sich auch jetzt in der Stille nicht zeigen. Also folgerte ich, dass es nicht die Stille ist, die das Unbehagen hervorbringt, sondern das Innehalten, macht es überhaupt erst möglich, meine innere Unruhe wahrzunehmen. Nun, niemand geht gern dahin, wo es unangenehm oder schmerzhaft ist. Doch gleichzeitig ist es auf Dauer sehr anstrengend, auf der Flucht vor sich selbst zu sein. Es ist ein mutiger Schritt, die Flucht zu beenden und da zu bleiben. Doch genau das lehrten mich meine Erfahrungen als aller erstes – ANHALTEN und DA BlEIBEN. EINFACH DA SEIN mit allem, was sich in mir bewegt und sich zeigen möchte. Das Angenehme, wie das Unangenehme, die Freude, wie die Trauer, das Wohlgefühl, wie der Schmerz. Was mich dann immer wieder aufs Neue erstaunt, ist, dass mich die Übung des „Anhaltens und Da-Bleibens“ ruhiger und stiller werden lässt, wenn ich „alles“, was ich in mir finde, liebevoll „da sein“ lasse. Wenn ich den Kampf in mir beende zeigt sich der innere Frieden und es wird still in mir.
Auch das Yoga lehrte mich die Stille, zunächst über die Meditation in Bewegung. Da ich meinen Körper auch lange Zeit kläglich behandelte, indem ich ihn weitgehend ignorierte, wurde Yoga für mich ein Weg, um meinen Körper nicht nur über Schmerzen wahrnehmen zu lernen, sondern auch über ein neues Wohlgefühl. Mein Körper atmete auf, ich entdeckte neue Körperempfindungen, und Enge und Starre durften sich weiten, neue Räume entstanden und jede Yogastunde wurde zu einem Innehalten und bei mir Ankommen. Über die Atemübungen begann ich den „stillen Raum“ in mir zu ahnen. Mein reger Geist wurde ruhiger, mein Körper geschmeidiger und durchlässiger und ich erlebte mehr und mehr „SEINS-MOMENTE“. Am Anfang waren es wirklich nur Momente, Sekunden, Minuten in denen ich diese Verbundenheit mit mir spürte. Doch mit der Zeit weiteten sich diese Momente aus. In dem ich mir – meinem Körper, meinen Gefühlen, meinem Denken zuhören lernte, wuchs die Verbundenheit mit mir und schließlich auch mit der Welt. Ich begann diesen unendlichen, stillen Raum in mir zu erahnen. Es war schließlich das Yoga, was mir half, eine Meditationspraxis aufzubauen und meine „inneren Wildpferde“ zu zähmen. So wurde mir „DIESER STILLE RAUM IN MIR“ immer vertrauter, den ich heute als mein inneres Zuhause bezeichnen würde. Hier fühle ich mich geborgen, geliebt und angenommen. Hier atme ich ein Glück, das von innen kommt. Hier wohnt eine einfache, schlichte Herzensfreude, ein tiefes Vertrauen und ein innerer Frieden. Hier finde ich mein Refugium, welches mir in stürmischen Zeiten Unterschlupf gewährt und die Sicherheit, die ich brauche, um im Leben bestehen zu können. Hier ruhe ich mich aus und schöpfe Kraft für mein Tun in der Welt.
Das Leben lehrte mich auch das NICHT-TUN, aus dem heraus wir der Stille begegnen können. Heute übe ich mich darin, mir regelmäßig Zeiten zu gönnen, in denen NICHTS ist, keine Termine, keine Aufgaben, ja nicht einmal Dinge, die ich schon immer gern mal machen wollte. Nein, ich meine die Musezeiten, in denen ich meine Seele baumeln lasse, mir zuhöre, lausche, ich gar nichts von mir erwarte und es genügt, dass ich EINFACH DA BIN. Diese Zeiten machen mich überaus glücklich ;-)!
Die Entwicklung, die ich hier beschreibe ging nicht schnell, nein, sehr, sehr langsam, manchmal mühsam langsam. Es braucht viel Geduld und inneres Loslassen. Doch es ist der Weg an sich, der sich lohnt und uns mit vielen kleinen, stillen, glückseligen Momenten beschenkt, in denen wir erkennen, um was es wirklich geht.
Brigitte Drescher