„Die Prinzessin im Schweigenland…“ – ein Märchen

Da ist ein junger König, der hat noch keine Frau. So reist er durch fremde Länder, aber nirgendwo findet er eine Prinzessin, die ihm so gefällt, dass er sie zur Königin machen will. Eines Tages findet er das Bild einer schönen Prinzessin. Begeistert ruft er aus: „Die und keine andere soll meine Frau werden! Wer ist sie? Wo wohnt sie?“ „Das ist die Prinzessin vom Schweigenland!“ „O weh! Dann ist sie nichts für mich. Ich rede nun einmal für mein Leben gern. Lieber rede und schwätze ich zehn Stunden am Tag, als auch nur zehn Minuten zu schweigen. Nein, das ist keine Frau für mich! Ich will sie vergessen!"

Er steckt ihr Bild in die Tasche. Manchmal aber zieht er es heraus, um es anzusehen. „Sie gefällt mir! Wohnte sie doch nur nicht im Schweigenland!" Eines Tages macht er sich auf und reist ins Schweigenland. Er will die Prinzessin sehen. Schweigenland ist schön, ein Land mit großen schattigen Wäldern und ruhigen Seen. Hier ist es still. Alle Menschen, die ihm begegnen, schweigen. Sie nicken freundlich mit dem Kopf und lächeln. Der junge König kommt zum Schloss. Er sagt zum alten König:

„Da bin ich! Du bist jetzt mein Gefangener. Führe mich zu deiner Tochter. Sie soll meine Frau werden!" Da spricht der König: „Gehe zu ihr und sage es ihr! Sie ist in ihrem Zimmer." Der junge König geht zur Prinzessin und sagt: „Ich bin der weise und mächtige Sonnenkönig. Ich habe euer Land erobert. Der König und sein Heer sind festgenommen. Dir will ich Gnade erweisen und dich heiraten. Ob du es verdient hast, weiß ich nicht!"

Er hat noch nicht ausgeredet, da sieht er die wunderschöne Prinzessin nicht mehr. Er sieht nur noch den leeren Stuhl, auf dem sie gesessen hat. Der junge König sieht sich erschrocken im Zimmer um. Die Prinzessin ist nicht zu finden. Nachdem er eine Weile still gewartet hat, sieht er sie wieder auf ihrem Stuhl sitzen. Er sagt zu ihr: „Es ist doch nicht bös gemeint, und deshalb verschwindet man doch nicht gleich. Du bist die schönste und liebste Prinzessin, die es gibt und je gegeben hat. Siehst du, hier habe ich dein Bild. Das trage ich immer bei mir. Und wenn ich allein bin, ziehe ich es hervor, um es mir anzuschauen. Ich kann mich nicht satt daran sehen. Du bist nun einmal die allerschönste Prinzessin, die es gibt. Und wenn du mich nicht heiratest, dann will ich nicht mehr leben."

Seine Rede ist noch nicht beendet, da ist die Prinzessin wieder weg. Viele Stunden geht das so. Wenn der Prinz schwätzt, ist sie nicht mehr zu sehen, denn die wunderschöne Prinzessin vom Schweigenland kann nur sehen, wer still ist und gut schweigen kann. Der Prinz aber: „Ich bin traurig! Was nützt mir das Land, das ich erobere, was hilft mir die Macht, die ich gewinne, wenn ich die wunderschöne Prinzessin nicht sehen kann?"

Der junge König wird stiller und nachdenklicher. Am nächsten Tag geht er zur Prinzessin und fragt:  „Was muss ich tun, um dich immer sehen zu können?" Da lächelt die Prinzessin ganz freundlich und sagt: „Du musst still werden und schweigen lernen. Der Staub der toten Worte haftet noch an dir."

Da geht der junge König fort und schweigt die ganze Nacht und den ganzen Tag. Am Anfang fällt es ihm schwer. Langsam entdeckt er den Wert der Stille. Er horcht und lauscht und schaut. Plötzlich versteht er das Sprichwort: „Ein Wald, der wächst, macht weniger Lärm als eine Mauer, die zusammenstürzt". Nach einigen Tagen geht er wieder zur Prinzessin und sagt:  „Ich glaube, ich kann's!" Da lächelt die Prinzessin noch freundlicher und sagt: „Dann lass uns zusammen schweigen."

Sie setzen sich einander gegenüber und schweigen. Das schweigende Zusammensein ist schön und bereichernd. Nach einer langen Zeit des Schweigens vernimmt der junge König auf einmal eine ganz leise Musik, die wunderschön klingt. Eine Weile horcht er, dann fragt er: „Was ist das für eine Musik?" „Das ist die Musik, die die Sterne machen, wenn sie ihre Bahn ziehen“, erwidert ihm die Prinzessin. „Nur wer ganz still ist und zu schweigen versteht, hört sie. Das ist das Geheimnis von Schweigenland. Wir Schweigenländer hören alle diese wunderschöne Musik. Darum ist es auch bei uns so leise. Keiner möchte den anderen stören. -    Nun weiß ich, dass du schweigen kannst. Weil du es aus Liebe zu mir gelernt hast, will ich deine Frau werden."

Der junge König ist glücklich, dass er das Geheimnis des Schweigens entdeckt hat. Er ist froh, dass er Abschied genommen hat vom Lärm und vom leeren Geschwätz. „Ich werde das Schweigen nie mehr verlernen“ so spricht er zu ihr, „denn ich habe erfahren, wie wertvoll es ist. Ein gutes Wort von dir kann mich lange glücklich machen. Komm mit in mein Land, denn ich möchte täglich mit dir schweigen und reden dürfen." Die Prinzessin jedoch: „Ich komme mit, aber zuvor musst du meines Vaters Reich wieder frei geben. Macht und Gewalt darf es im Schweigenland nicht geben. Hier gibt es

Raum für Freiheit, Liebe und Frieden." Der Prinz verspricht es. Er nimmt die Prinzessin mit in sein Reich, nein, in ihr und aller Reich, und beide und alle leben glücklich miteinander.

(Von Martin Auffarth gekürzt und präsentisch formuliert nach einem Märchen von Rosemarie Schmidt)