Alter Friedhof

 

Ich beginne meinen Weg der Stille in Freiburg am umtriebigen Rathausplatz. Hier ist es reichlich unruhig. Die Passanten hetzen heute Morgen geradezu, sie sind unter offenbar hohem Zeitdruck wegen den wichtigen Zielen, die sie sich zu erreichen vorgenommen haben. "Alles wird durch sein Gegenteil erkannt", sagt der Dichter und Mystiker Rumi. So muss auch ich vielleicht zunächst einmal die Hektik und Getriebenheit spüren, ehe ich die Orte der Ruhe finden kann.

 

Vom Rathausplatz wähle ich das kleine Strässchen, das an der Nordseite der Martinskirche in Richtung Kaiser-Josef-Strasse führt. Ein Hauch von Räucherstäbchen und Duftölen weht mir entgegen, ausgehend von alternativen Verkaufsständen mit Waren aus Indien. - Die Menschen an den Verkaufständen scheinen mir entspannter zu sein als die Passanten auf dem Rathausplatz. Ein Mann fällt mir auf. Seine Erscheinung ist eher unkonventionell. Er fährt ein Kind im Kinderwagen spazieren. Ob er wohl der Vater des Kindes ist? Ich meine im Vorbeigehen die tiefe hingebungsvolle Liebe spüren, die er für das Kind im Kinderwagen hat. Mir wird bewusst, wie konventionell meine Vorstellungen von Familienvätern sind. Ja, ich erfahre das immer wieder: Wenn ich mich aufmache, den Weg zur Stille  zu gehen, befreit mich das mehr und mehr vom Gefangensein in fixen Vorstellungen, Konventionen und Bildern.

 

Ich erreiche das morgendliche Markttreiben auf dem Münsterplatz. Wie schön, wenn Handel noch mit Begegnung, mit menschlicher Beziehung von Auge zu Auge, mit regionalen Produkten, über die man sprechen kann, zu tun hat. Meine Mutter ging zu Zeiten meiner Kindheit  jeden Morgen auf diesen Markt und kaufte von den Bauern, die sie kannte. Wovon lebe ich heute? Was sind meine Lebensmittel? Ja, meine Frau kauft fast alles im Bioladen. Und doch: Die Unruhe, die mich oft überwältigt - inwiefern hat sie auch damit zu tun, dass ich mich in so vielerlei Hinsicht auf denaturierte, entfremdete Nahrungsmittel und andere entfremdete Energiequellen verlasse?

Weiter wandere ich über die Herrenstrasse in Richtung Norden, immer geradeaus, unter dem großen Gebäude des Karlsklotzes hindurch weiter zur Karlstrasse, bis linker Hand von mir an der Mauer das Eingangstor zum alten Friedhof zu sehen ist. Er ist mein erstens Ziel auf meinem Pilgerweg zu Orten der Stille in Freiburg.

Der alte Friedhof - ein fast magisches Wort in Freiburg. So oft  habe ich es schon erlebt, das Aufleuchten in den Augen, das wissende, fast geheimnisvolle Lächeln, das über die Gesichter vieler Freiburger huscht, wenn man vom alten Friedhof spricht.

Eine zauberhafte Ruhe empfängt mich hier. Unwiderstehlich fühle ich mich hingezogen, mich auf eine der Bänke zu setzen und einfach nur zu lauschen und zu schauen. Ich spüre so etwas wie ein stilles Einvernehmen mit jedem, dem ich hier, vielleicht kurz grüßend, aber im Wesentlichen im Schweigen, begegne. Alle hier haben einen Zugang zu der Besonderheit dieses Ortes, zur Entschleunigung, zum Innehalten. Ich werde ein wenig melancholisch, weil mich die alten Grabsteine an die Vergänglichkeit alles Irdischen erinnern. Und doch - kann ich nicht auch eine leise, kraftvolle innere Freude wahrnehmen?  Kommt sie vom Wind der Ewigkeit, dessen sanftes Streicheln man hier hautnah zu spüren meint? Ich möchte lange verweilen hier. Muss ich wirklich gleich weiter...?

Nein. Ich darf hier eine Zeitlang verweilen. Ein Gedicht von Rilke kommt mir in den Sinn: "Dass ich nicht war vor einer Weile - weißt Du davon? Und Du sagst: Nein. Da fühl ich: Wenn ich nur nicht eile, so kann ich nie vergangen sein..."

Die Zeit scheint hier still zu stehen. Viel leichter, fast von selbst, geht die Aufmerksamkeit zum Atem, beobachtet staunend das Mysterium, durch das mir in jedem Moment mein Leben geschenkt wird. Woher kommt der Atem? Wo fließt er hin? Was ist das, "Seele"? Mir fällt eine Grabinschrift ein, die ich einst auf einem Nürnberger Grabstein geschrieben fand: "Der ich bin grüßt den, der ich war." Nein, es bringt mich nicht in eine düstere Stimmung, an die Tatsache zu denken, dass wir alle sterblich sind. Es macht mich sogar lebendig. Ich spüre eine Dankbarkeit dafür, dass ich atmen kann, dass mir dieser Tag geschenkt ist. Er ist so kostbar, dieser Augenblick!

Unweit des Ausganges zur Stadtstrasse hin, links davon, finde ich den vielgeliebten Grabstein "der Schlafenden".  Man sagt, er sei nie ohne frische Blumen. Die schöne Frau, die da zu sehen ist - ist sie wirklich gestorben, oder sendet sie einen sanften Gruss aus einem unvergänglichen Land jenseits von Raum und Zeit?

Ich setze meinen Weg der Stille fort, indem ich den alten Friedhof am oberen Ausgang Richtung Stadtstrasse verlasse und diese nach rechts wandere, bis ich zum Stadtpark komme.

(Anklicken: Stadtpark)

Johannes Latzel: Ein Weg der Stille in Freiburg. Teil 1